Das Zappelphilipp-Syndrom wird nicht nur bei Kindern immer häufiger diagnostiziert. Eckart von Hirschhausen, medizinische Allzweckwaffe der ARD, recherchiert dem Trend hinterher. Und findet heraus, dass das Thema überraschend viel mit ihm zu tun hat.
Wenn wir zurückdenken an unsere Schulzeit, dann hatte vermutlich jede und jeder einen Klassenkameraden, der irgendwie auffällig war. Der sich an keine Regel halten konnte, immer Ärger provozierte und herumhampelte. Der eine Zumutung war – für die Lehrkräfte, für seine Mitschüler und oft auch für sich selbst. Statistisch gesehen sitzt in jeder Schulklasse ein Kind mit ADHS.
Eckart von Hirschhausen begleitet das Thema ADHS schon lange. Bereits vor 30 Jahren habe er das Zappelphilipp-Syndrom als Arzt in der Kinderneurologie erlebt. Damals, sagt er, sei man davon ausgegangen, dass vor allem Jungs betroffen sind. Und dass sich das auswächst im Laufe des Lebens. Heute weiß man: Beides ist falsch.
Diagnose: Kopf-Kirmes rund um die Uhr
„Ständig Remmidemmi im Kopf“: So, sagt von Hirschhausen in der neuen ARD-Dokumentation „Hirschhausen und ADHS“, fühle sich ADHS für Betroffene an, weil das Gehirn Wichtiges von Nebensächlichkeiten nur schlecht trennen kann und deshalb wie irre hin und her springt mit der Aufmerksamkeit zwischen allem, was es wahrnimmt. Die Krankheit könne „gravierende Folgen für das Individuum haben“, drückt es ADHS-Experte Andreas Reif vom Uniklinikum Frankfurt in dem Film aus. Vor allem, wenn die Störung nicht erkannt und nicht behandelt wird.
Denn ADHS-Betroffene sind auf der Suche nach neuen Reizen, wenn die Umgebung mal nicht ausreichend bietet. Die Hoffnung auf den nächsten Kick erhöht die Risikobereitschaft bei ADHS-Betroffenen. Die Suchtwahrscheinlichkeit ist erhöht. Und Untersuchungen in Gefängnissen zeigen, dass bis zu 40 Prozent der jungen männlichen Insassen ADHS haben.
ADHS: Sind die Eltern schuld?
Hirschhausen trifft Menschen mit diagnostiziertem Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom und solche, die sich als Experten damit auskennen. Er spricht mit Eltern von ADHS-Kindern darüber, wie belastend das für die Geschwister und die Eltern ist. Auch, weil die sich oft mit der Schuldfrage herumschlagen: Was haben wir falsch gemacht? Alexandra Philipsen, Professorin an der Uniklinik Bonn, kann hier beruhigen: Mit der Symptomatik wird man geboren, es gibt ganz klar eine genetische Komponente. „Man würde ja auch niemanden kritisieren für seine Körpergröße.“
Wie schon bei seinen Info-Stücken über Corona und Long Covid gelingt es von Hirschhausen auch diesmal, ein komplexes Medizinthema so zu erzählen, dass es jeder versteht: wie ADHS entsteht, wie es sich anfühlt, welche Folgen es hat. Und noch viel wichtiger: Hirschhausen gibt der Störung viele Gesichter und Geschichten. Verständnis für Betroffene kann nur so entstehen.
Das Lehrerurteil: „Eckart ist ein ständiger Unruheherd“
In dem, was seine Interviewpartner ihm erzählen, findet Eckart von Hirschhausen sich selbst überraschend oft wieder: Er habe durchaus Mühe, Aufgaben zu priorisieren, Ordnung zu halten, Termine einzuhalten, gesteht er Professorin Philipsen. „Eckart ist ein ständiger Unruheherd“ hieß es schon in der Grundschule über ihn. Viele Tests später bescheinigt ihm die Expertin: „Insgesamt habe ich schon den Eindruck, dass ADHS etwas mit Ihnen zu tun hat.“ Soll heißen: moderates ADHS.
Die Expertin rät Hirschhausen zu einem reizarmen Arbeitsumfeld und zu Sport, um die innere Unruhe abzubauen. Die Pharmaindustrie hält noch ein anderes Helferlein parat: den Wirkstoff Methylphenidat, besser bekannt etwa unter dem Handelsnamen Ritalin. Ein Medikament, das polarisiert: Mein Kind wird zum Zombie gemacht, fürchten manche Eltern. Nur mit dem Mittel ist mein Kind in der Lage, in die Schule zu gehen und soziale Beziehungen aufzubauen, sagen andere.
Der Arzt im Selbstversuch: Wie wirkt das Anti-ADHS-Mittel?
In seiner Doku legt sich von Hirschhausen fest: Medikamente können für viele Betroffene echte Lebensretter sein. Im Selbstversuch schluckt er schließlich zwei unterschiedliche Anti-Zappel-Tabletten. Bei einem spürt er wenig, beim anderen hatte er das Gefühl, dass eine schöne, innere Ruhe über ihn kommt. Er nimmt es jetzt an „besonders anspruchsvollen, stressigen Tagen“, sagt er. Eine Formulierung, die durchaus eine Gefahr birgt. Denn wer hat nicht manchmal anspruchsvolle, stressige Tage? Und wünscht sich mehr innere Ruhe?
Eckart von Hirschhausen glaubt, dass sein moderates ADHS wohl beteiligt war an der Entscheidung, den Arztkittel an den Nagel zu hängen und Karriere im Rampenlicht zu machen. Medizin plus Zauberei, Kabarett, Moderation: Hirschhausen hat das Prinzip „Ständig Remmidemmi im Kopf“ einfach zum Beruf gemacht. Und ist damit eigentlich ganz gut gefahren.
„Hirschhausen und AHDS“ läuft am 30. Oktober um 20.15 im Ersten und ist in der ARD-Mediathek verfügbar.
Author: Veronica Ortiz
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