ADHS bei Erwachsenen - Gefangen im eigenen Kopf
Mi 19.10.22 | 06:07 Uhr | Von
ADHS gilt als Kinderkrankheit. Dabei ist es weder eine Krankheit, noch sind allein Kinder davon betroffen. Viele bekommen die Diagnose erst als Erwachsene. So auch die Berliner Illustratorin Pina. Von David Donschen
"Soll ich vor dem Interview aufräumen oder alles so lassen, wie es ist?" Es kostet Pina Überwindung, uns in ihre Wohnung zu lassen. Aber es ist ihr ein Anliegen, darüber aufzuklären, wie sich ein Leben mit ADHS anfühlt.
Auf den ersten Blick ist es in ihrer Weißenseer Wohnung gar nicht unordentlich. Aber bei genauerem Hinschauen entdeckt man in einigen Ecken Kisten. In der Küche stapeln sich unbenutzte Teller. Pina zeigt auf sechs große Deko-Muscheln, die zwischen einer Flasche Wein und dem Toaster liegen. "Die haben wir vor zwei Jahren zu Weihnachten benutzt." Eigentlich wollte sie all das längst weggeräumt haben. Aber sie schafft es einfach nicht. "Zu 80 Prozent bekomme ich die Sachen fertig." Es sind die restlichen 20 Prozent, die ihren Alltag zu einer Herausforderung machen.
Lästige Aufgaben vor sich her zu schieben, das machen nicht nur Menschen mit ADHS. Doch bei Pina wirkt dieses Verhalten in alle Lebensbereiche. Seit über einem Jahr schafft sie es nicht, ein Termin beim Therapeuten auszumachen. Dabei hat sie dort sogar schon einen Therapieplatz. Doch immer wieder schiebt sie es vor sich her. Obwohl sie weiß, wie wichtig die Therapie für sie wäre. "Gefangen im eigenen Kopf", so beschreibt sie ihren Zustand.
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dpa/J.Kalaene
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ADHS ist eine neurologische Störung
ADHS gilt als eine Kinderkrankheit. Dabei ist es weder eine Krankheit, noch sind allein junge Menschen davon betroffen. Beim Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom handelt sich um eine neurologische Abweichung. Es wird vermutet, dass bei Betroffenen die Ausschüttung von Botenstoffen wie Dopamin und Serotonin gestört ist. Als Folge können sie Reize nicht gut filtern, sind impulsiver und können sich schlechter konzentrieren.
ADHS ist angeboren. Julian Hellmann-Regen leitet die Spezialambulanz ADHS im Erwachsenenalter an der Charité. Er geht davon aus, dass grob die Hälfte aller Kinder mit ADHS auch als Erwachsene weiter Symptome zeigen. Nach Zahlen der Kaufmännischen Krankenkasse (KKH) haben sich die ADHS-Diagnosen von Erwachsenen zwischen 2008 und 2018 nahezu verdreifacht. Auch Hellmann-Regen verzeichnet in seiner Ambulanz eine gestiegene Nachfrage nach Beratung und Behandlung. Genaue Zahlen für Deutschland gibt es nicht. Laut dem Diagnostiksystem für psychische Störungen sind etwa 2,5 Prozent der erwachsenen Allgemeinbevölkerung von ADHS betroffen.
Pina bekommt ihre Diagnose vor vier Jahren. Da ist sie bereits 28. Dabei zeigt sie schon als Kind typische ADHS-Symptome. Dauernd lässt sie das Handy oder den Regenschirm im Bus liegen. Im Unterricht schaut sie lieber aus dem Fenster als an die Tafel. Auf ihrem Zeugnis steht, dass sie lebhaft ist und viel erzählt, dass das aber oft nichts mit dem Unterricht zu tun hat.
Bei Mädchen und Frauen bleibt ADHS häufig undiagnostiziert
Und trotzdem bleibt das ADHS bei ihr unerkannt. So wie bei vielen Mädchen. Julian Hellmann-Regen von der Charité geht davon aus, dass es bei ihnen häufiger übersehen wird: "Was in jedem Fall auffällt: Die ungleiche Geschlechterverteilung bei der Diagnose." Bei Jungen wird ADHS viermal häufiger diagnostiziert als bei Mädchen. Wohl auch, weil viele Mädchen trotz ADHS passable oder sogar gute Schülerinnen sind. Sie passen sich mehr in die Gesellschaft ein, sind nicht so aggressiv und fallen weniger auf.
Bei Pina führt eine Krise auf der Arbeit zur Diagnose. "Mein absoluter Traumjob." Für einen Kinofilm arbeitet sie als Designerin. "Ich hab mich an den Schreibtisch gesetzt. Doch mein Kopf hat einfach gestreikt." Wie eine bockige Fünfjährige habe sie sich gefühlt.
Sie macht Sport, geht Spazieren, versucht sich zu entspannen. Aber nichts hilft. Zwei Wochen lang quält sie sich, kann kaum schlafen. Schließlich googelt sie "Kann einfach nicht arbeiten" und findet so einen Onlineartikel zu ADHS. Sie macht einen Termin in einer Klinik und bekommt dort die Diagnose.
"Das war erstmal schlimm. Weil ich mein ganzes Leben lang gedacht habe: Wenn ich mich ein bisschen mehr anstrenge, dann kann ich normal werden. Und durch die Diagnose wurde mir klar: Du wirst niemals normal." Mittlerweile denkt sie anders über die Diagnose und das ADHS. Sie hat akzeptiert, dass es ein Teil von ihr ist. An Tagen mit besonderen Herausforderungen nimmt sie Methylphenidat, auch bekannt unter dem Handelsnamen Ritalin. Das Medikament hilft ihr dabei, Gedanken klarer zu fassen und Aufgaben anzugehen.
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Menschen mit ADHS ernst nehmen
Und sie macht das ADHS zum Thema ihrer Arbeit. Mit ihrem "ADHD-Alien" klärt sie auf Social Media in Comics und Illustrationen über Symptome auf und stellt sich gegen Vorurteile. Mit großem Erfolg: Auf Instagram hat sie über 128.000 Follower, auf Twitter sogar über 187.000.
Pina möchte, dass man Menschen mit ADHS ernst nimmt. Wenn Betroffene davon berichten, dann würden Freund:innen, Kolleg:innen oder die eigene Familie es oft abtun. ADHS sei aber keine Einbildung oder Modekrankheit, sondern "etwas neurologisches, was mich den ganzen Tag und jeden Tag beeinflusst."
Gerade arbeitet sie für einen großen Verlag an einer Graphic Novel zum Thema ADHS. Erscheinen soll sie in zwei Jahren. "Vielleicht dauert es aber auch noch ein bisschen länger", sagt sie mit einem Lächeln auf dem Gesicht.
Sendung: rbb24 Inforadio, 19.10.2022, 6:00 Uhr
Author: Douglas Calderon
Last Updated: 1703485204
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